Region 10
Neckarland, Schwäbische Alb, Schwarzwald

Göttin vom Hohle Fels
Ein Besuch in der Höhle bei Schelklingen

Dagmar Margotsdotter-Fricke

Schelklingen, Schwäbische Alb im November. Die Straße am Fuß der Höhle ist laut und bedrohlich. Die Räder der Autos zischen durch den Regen, LKWs rasen vorbei, durchs Tal braust ein Zug.

Ich frage mich: Wo geht's hier zurück zum Paradies? Einst muss das Tal am Fuß der Höhle vom Hohle Fels völlig bewaldet gewesen sein. Ein fischreicher Fluss schlängelte sich in endlosen Mäandern durch das fruchtbare Tal. Unzählige Bärinnen und Bären zog es hierher. Hier war das Gras ganz besonders zart, die Beeren besonders süß. Viele kamen, um genau hier ihren letzten, großen Schlaf anzutreten.

Höhlen gibt es viele in der Schwäbischen Alb, aber diese hier ist einzigartig lebendig. Es ist keine Karsthöhle mit nacktem Fels, sondern eine eindrucksvolle Basilika aus versteinerten Meeresschwämmen. Jeder Zentimeter ihrer Wand war in Urzeiten mit Leben bedeckt, als das Meer sie liebevoll und unerbittlich gestaltete und schliff. Alles in ihr ist weich, hell und rund, und wie zur Bestätigung sind auch die flächigen Kalkablagerungen weich und cremig wie Butter. Noch immer lebt und gestaltet sich die Höhle. In ihrem Innern ist es warm und angenehm, wie in einer Gebärmutter.

Bärmutter. Ursa Major. Auf dem Boden am Höhlenrand lehmige Kuhlen, die Oberflächen glatt und rundgelegen, die Felswände an den Seiten vom Reiben und Schubbern glänzend abgeschliffen: eine Ruhestätte, für unzählig viele Bärenwesen die letzte.

Hier muss eine Art Bär-Tempel gewesen sein, ein Ort des Friedens. Die ungeheure Zahl der gefundenen Knochen - Tausende! - weist auf eine gemeinsame Nutzung mit Löwen hin, wenn auch die Löwen nur seltene Gäste waren. Keiner der Knochenfunde zeigt eine Verletzung durch Gewalt. Hier wurde nicht gekämpft, nicht gejagt. Das achteten auch die Menschen. Respektvoll lebten sie im Eingang der Höhle, drinnen die ruhenden Bärschwestern und -brüder. Wenn Menschen die Basilika im Höhleninneren betraten, hinterließen sie keine Spuren: War ihnen dieser Raum zu heilig?

Dafür finden sich im Foyer umso mehr Hinterlassenschaften: Flöten und Figuren wie Vögel, Pferde, Großkatzen, Mammuts, alles aus edlem Elfenbein. Und schließlich Die Göttin selbst, Mutter aller und Vor-Bild der Menschenfrau. Bär-Mutter, Ursa Major: die Große Bärin und GeBärerin.

Der Höhleneingang öffnet sich wie eine Vulva und ist genau nach Norden ausgerichtet. Zur Wintersonnenwende steigen jedes Jahr am Nordhimmel die Sternenbilder Ursa Major und Ursa Minor gemeinsam auf: die Große Bärin hat ihr Töchterchen geboren, das Leben wird weitergehen, oh heilige Nacht! Hier, zehn bis zwanzig Schritte vom Eingang entfernt, wartete SIE auf uns, vierzigtausend Jahre lang.

Und wir sind gekommen! Wir haben sie wiedergefunden. Wir: Moderne Frauen - die jüngsten Töchter der Frau, welche die Figur erschaffen hat, also der zurzeit ältesten Künstlerin der Welt.

Sind das nicht Superlative von atemberaubender Dimension?

In meiner Erinnerung sehe ich noch die kleine, nackte Göttin-Figur in der Hand des Ausgrabungsleiters. Wie ich ihre Blöße fühlte. Seine Blicke schmerzten mich. Als sie 2008 entdeckt und der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, wurde ihr kleiner, heiliger Leib in den Medien mit Obszönitäten besudelt. Es war, als versuchte man mit Worten ihr Mysterium zu bannen.

Dass solche Blicke, solche Worte über die älteste plastische Darstellung einer Frau in der Menschheitsgeschichte schmerzen, ist natürlich Projektion - die Figur bleibt gelassen. Nicht IHR gelten Hohn und Spott eigentlich: Wir sind gemeint - wir Frauen von heute! Stellt Euch vor, wir erinnerten, wir fänden wieder! Noch schläft die Bärin in uns. Noch gehen wir zur Tagesordnung über: tippen als Angestellte erniedrigende Texte über SIE; helfen bei der touristischen Vermarktung; putzen im Museum den unauffälligen Schaukasten in der Ecke, in dem SIE steht; kichern nervös als Mitarbeiterin des Museums und denken: „Schon wieder so eine Feministin.“

Nehmen wir uns Zeit für Besinnung statt für Arbeit, Konsum, Männer, Fernsehen, Fitness im 8-Stunden-Takt. Ohne Muße können wir nichts finden, schon gar nicht an IHR. Soll das so sein?

So gesehen ist die Frau vom Hohle Fels eine Politikerin. SIE ist die First Lady. Wenn wir, IHRE Töchter, uns der Bedeutung IHRES Erscheinens tatsächlich stellen, bleibt nichts mehr, wie es war. Die Dimension IHRER Erscheinung als zurzeit ältesten Figur der Welt - und das als Frauenfigur- ist für uns Frauen unermesslich, maßlos. Welch tiefes Erinnern und Erwachen: SIE zeigt sich - und damit jede Frau - als GeBärMutter, Künstlerin, Denkerin, Priesterin, Göttin: unvorstellbare Tiefen im kollektiven Bewusstsein der Menschheit. Welche Mut machenden Kräfte für uns spirituell politische Frauen von heute schlummern in dieser Figur, wenn wir SIE so erkennen.

Alles zeigt sich in IHREN sechskommadrei Zentimetern Elfenbein, vierzigtausend Jahre alt: schwebende Brüste, markanter Schoß, Heiterkeit, Selbstverstand.


Ich bin der Schoß,

der alles gebiert.

Ich bin das Tor zur Welt

und der Busen, der Euch nährt.

Ich bin die EINE in jeder Frau.


Alles liegt symbolisch auf und in unserer Hand: Wenn SIE sprechen will, spricht SIE durch uns. Wenn SIE handeln will, handeln wir. Das Politische in der weiblichen Spiritualität ist das Wirken der Großen Mutter, welches bei unserem Tun und Sein als Frau zum Ausdruck kommt. Wenn wir uns an SIE, die EINE, die Einheit von Mensch&Kosmos, Frau&Leben erinnern, erinnert SIE SELBST sich in uns und erwacht mit uns für eine neue Zeit.

Die älteste bislang bekannte Menschenfigur der Welt wurde im September 2008 entdeckt. Das nur sechs Zentimeter große Idol aus Mammut-Elfenbein vom Hohle Fels bei Schelklingen war erstmals in der Großen Landesausstellung „Eiszeit - Kunst und Kultur" öffentlich zu sehen. Inzwischen steht die Göttin im umgebauten Museum in Blaubeuren, wo ein ganzes Stockwerk für SIE neu angebaut wurde.

Dagmar Margotsdotter-Fricke