Region 7
Hessisches Bergland, Rhön, Odenwald


Vogelsberg
Bilstein - ein Ort der Frau Holle
Kathrin Wind

Je näher wir dem Vogelsberg an diesem nasskalten Oktobertag kommen, desto nebliger wird es. Nur schemenhaft erkennen wir dichtbewaldete Hänge, kleine Ortschaften, Bäche und Täler. Es ist nur schwer vorstellbar, dass wir uns hier im größten Vulkangebiet Mitteleuropas befinden, in dem vor ungefähr 17 bis 14 Mio. Jahren aus hunderten von Schloten glühende, basalthaltige Lava emporstieg. Aus einer großen Anzahl von Spaltenergüssen, aber auch teils heftigen Einzeleruptionen, entstand in mehreren Schüben die Vulkanregion Vogelsberg, die sich mit einem Durchmesser von ca. 65 km über eine Fläche von etwa 2500 km² erstreckt.
An diesem Herbsttag erinnern uns das nasse Wetter und die matschigen Wege allerdings eher daran, dass die Region nahezu während des gesamten Erdaltertums von Meer bedeckt gewesen sein soll.

Der Nebel lichtet sich etwas, als wir bei Breungesheim eine Höhe von über 550 Metern erreichen. Wir suchen uns einen Parkplatz in der Straße „Auf der Weide“. Wie treffend dieser Name ist, bestätigt uns eine große Schafherde, die der Schäfer gerade am Rand einer großen, von einem Bach begrenzten Weide zusammentreibt. Das Blöken der Schafe mischt sich mit dem Rauschen das Baches, an dem entlang wir uns nun in Richtung des BILSTEINs auf den Weg machen.

Nach 20 Minuten erreichen wir die an ihrem höchsten Punkt 666 m hohe Felsklippe, die sich ostsüdöstlich von Busenborn von Norden nach Süden erstreckt. Da wir uns dem Bilstein von Nord-Osten aus genährt haben, liegen die Felsen leicht ersteigbar vor uns. Erst von oben sehen wir, wie steil die Klippen nach Westen hin abfallen. Wir setzen uns auf die Felsen und schauen auf die unter uns liegenden Bäume. Aus dem Wald, der den Bilstein umgibt, steigen Nebel auf, die in bizarren Wolkenformationen an den Felsen hinauf und über uns hinweg wehen. Es ist still. Niemand außer uns ist heute hier unterwegs. Es fühlt sich an, als sei ich für einen Moment in einer anderen Welt, und ich finde das Wetter genau richtig so.

     

Bei klarem Wetter ist die Stimmung hier sicher ganz anders. Dann zeigt sich der Bilstein als ein ganz besonderer Aussichtspunkt, von dem aus nicht nur die Wetterau sondern auch der Odenwald, der Donnersberg in der Pfalz, der Taunus, der Westerwald, der Dünsberg bei Gießen sowie auch das Rothaargebirge zu sehen sein sollen. Diese Aussicht können wir heute nur erahnen. So machen wir uns nach einer Weile auf den Weg, um die Felsformation einmal zu umrunden. Der Boden liegt voller dick bemooster Gesteinsbrocken und nassem Laub.

Auf der Westseite entdecken wir am Fuß eines Baumstamms ein Teil einer alten verrosteten Waage. Wir rätseln in immer fantasievolleren Geschichten über diesen skurrilen Fund und darüber, wie und warum die Waage hierher gelangt sein könnte. Wurde sie aus Freude über das erlangte Idealgewicht hierhergeworfen oder aus Ärger, dieses immer noch nicht erreicht zu haben… oder …. ???

Mich lässt das irritierende Gefühl nicht los, dass unterhalb des Bilsteins eine Siedlung liegen müsste, obwohl hier nichts dergleichen zu erkennen ist. Erst später lese ich in dem Buch „Der Vogelsberg – Land der Hecken-Land der Quellen“, dass Busenborn ursprünglich unterhalb des Bilsteins lag, und erst nachdem es dreimal völlig niederbrannte, 1523 an seinem heutigen Ort aufgebaut wurde.

Vom Fuß der Klippen schauen wir an den steilen, vulkanischen Basaltfelsen empor. Die Gesteinsplatten stehen fast vertikal und deuten auf eine ehemalige Spalte hin, aus der das Magma emportrat.

Hier, unter dem Bilstein, soll die „Wilde Frau“ bzw. „Wilde Else“ ihre Höhle gehabt haben, in der ihr Bett aus Laub und Moos gestanden haben soll. In Michelstadt und der tiefer gelegenen Gegend heißt es, Frau Holle wohne im Bilstein. Einige schildern sie als weiße Frau, meist wird sie aber als alt und als „gruselig“ beschrieben. In dem 1873 erschienen „Oberhessischen Sagenbuch“ widmet der Autor Theodor Bindewald der Else bzw. Holle ein Kapitel („Der Else ihr Keller im Bilstein“). Die Sage, die er sich vor über 140 Jahren erzählen ließ und nach eigener Aussage möglichst wortgetreu niederschrieb, berichtet, dass sich mitunter eine Spalte im Fels auftue und dann die Else zu sehen sei wie sie dort sitze und spinne. Er erwähnt auch, dass es vielerorts heiße, „die Hollefrau wohne im Bilstein“. Ziehe der Nebel blau um die Felsen, dann koche sie ihr Mahl. Liegen noch einzelne Schneeblacken unter den Bäumen, so trockne sie ihre Wäsche. Auf einen Wiesengrund unterhalb des Bilstein, auf die „Bornwiese“, käme die Else bzw. Frau Holle oft herab, um „ihre Wäsche zu thun, zu baden und zu bleichen“.
Wir dürfen davon ausgehen, dass die Else und die Göttin Holle identisch sind. Zum einen ranken sich im Vogelsberg viele Sagen um Frau Holle (Frau-Holle-Loch, Wildholl-Loch und weitere). Zum anderen werden ihr hier Tätigkeiten zugeschrieben, wie wir sie aus den Mythen der Göttin Holle kennen. So macht sie z.B. als Wettergöttin Nebel und Schnee und auch das Spinnen ist ihre ureigenste Tätigkeit.

Im Oberhessischen Sagenbuch von 1873 wird auch folgende Begebenheit über die Else / Holle berichtet:
„In den Ritterzeiten, in der Zeit der Zwölften, es denkt einem nicht, wann`s gewesen ist, ritt einmal ein stattlicher Held den Bilstein hinauf und sah im Mondenschein eine gebrechliche Frau mit ihrem Krückstock auf dem Stein eines Kreuzwegs sitzen. Diese bat ihn gar inständig, er möge sie doch hinter sich auf`s Pferd nehmen, daß sie auch noch heim käme. Allein der Ritter hatte taube Ohren für ihr Flehen und jagte vorüber. Plötzlich umfaßten ihn die klapperdürren Arme des Weibes. Die Else war ihm hinter den Rücken gesprungen und trieb das schäumende Roß auf die höchste Spitze des Felsens. Dort stürzte sie Mann und Roß hinunter, daß sie elendiglich an dem Gesteine zerschellten, und verschwand im Berge.“




Eine Infotafel, die wir am Rande des Bilsteins vorfinden, nimmt die Sage von der Else bzw. Frau Holle auf und erwähnt: „An dem einsamen Orte hüten des mittags die Weidbuben nicht gerne, denn die Else soll früher schon gekommen sein und Menschen mit sich hinein in den Berg genommen haben. Diese sind nie wieder zurückgekehrt.“ Außerdem erfahren wir, dass die ledigen jungen Männer von Busenborn auch heute noch alljährlich am Pfingstabend eine mächtige Maie auf dem Bilstein in einem schiefen Winkel aufstellen. Es ist der einzige schiefe Maibaum Deutschlands.
Der Bilstein hat sicherlich eine lange mythologische Geschichte, die sich aber nicht ganz erschließt. Bereits die Herkunft des Namens Bilstein lässt sich nicht sicher zurückverfolgen. Während einerseits der Name von „Bildstein“ abgeleitet wird, da hier ein großes Götterbild gestanden haben soll (des altgermanischen Gottes Bil oder des keltischen Gottes Belus; Bindewald spricht nur von einem „ungeheuer großen Götzenbild“), wird andererseits in Betracht gezogen, dass es sich um die Mondgöttin Bil gehandelt haben könnte, die hier verehrt wurde. Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe weiterer Ableitungsideen.

Am Ende unserer Umrundung kehren wir auf die Felsen zurück und setzen uns an diesem Holle-Ort noch einmal nieder. Inzwischen hat sich der Nebel weiter gelichtet und wir können weit über die Wetterau schauen. Wir spüren, wie beeindruckend der Ausblick hier an klaren Tagen sein kann.

Kathrin Wind