Region 3

Lüneburger Heide, Weserbergland, Harz


Die Lippoldshöhle bei Alfeld
Räuberhöhle oder Erdstall?
Dieter Ahlborn


Lage und Geschichte

Nicht weit vom niedersächsischen Alfeld entfernt, nahe dem Ort Brunkensen, befindet sich eine bemerkenswerte, künstlich geschaffene Höhle. Sie liegt in einer Felswand oberhalb des Glenebachs, zwischen dem Reuberg und dem Duinger Berg. Das Umland der Höhle ist das von Bergzügen eingegrenzte, altsächsische Gebiet mit der Bezeichnung Aringo. Die Gegend trägt Siedlungsspuren bis in die Jungsteinzeit. Aus der unmittelbaren Umgebung der Höhle sind eisenzeitliche Scherbenfunde bekannt. Eine überdimensionale steinerne Maskenformation an einer Felswand und der sogenannte Lügenstein, ein in einem Felsschacht eingeklemmter Felsklotz am Höhlenvorplatz, werden von Heimatforschern im Zusammenhang mit der Höhle gesehen. Der Lügenstein gilt dabei als alter Gerichtsplatz. Angeblich würde der Stein nachrutschen, wenn unter ihm nicht die Wahrheit gesprochen wird. (1)

                                                                                                                                                                                                                                                                 Foto: Dieter Ahlborn

Die Zeit der Erbauung der Lippoldshöhle ist unbekannt. Ihre Bezeichnung wird von der Sagengestalt des Räuber Lippolds abgeleitet. Eine erste schriftliche Erwähnung stammt aus dem Jahre 1466, als der Hildesheimer Bischof mit seinen Leuten „vor dat Lippoldshohl“ zog, um eine Straße zu versperren. (2)

Der Räuber muss also schon vor dieser Zeit sein Unwesengetrieben haben. Es wird vermutet, dass die Höhle in der Zeit des Mittelalters im Zusammenhang mit dem Bau einer Sperrburg durch Anbauten erweitert wurde. In derFelswand sind noch heute einige Balkenlöcher zu sehen. Mit der um das Jahr 1200 auf dem Reuberg erbauten Gleneburg, der aus ähnlicher Zeit stammenden Burg Hohenbüchen (beide im Jahre 1311 zerstört) und der gegenüberliegenden „Hohen Warte“ am Odenberg, dem südöstlichen Ausläufer des Duinger Berges, war es möglich, zwei wichtige Wege zu sperren oder zu kontrollieren. Da die Lippoldshöhle mit ihren in den Fels gehauenen Kammern und Gängen nur von Oben anzugreifen gewesen wäre, bekam sie durch den Bau der Gleneburg Rückenschutz. Für den Ausbau zu einer Sperrburg spricht ein Jahrhunderte andauernder Grenzstreit zwischen den Herren von Hohenbüchen und später den Herzögen von Braunschweig mit den Wrisbergern bzw. dem Bischof von Hildesheim. (3)

Im Zusammenhang mit dem Bau der Burg Hohenbüchen wird ein Lippold von Rössing genannt, welcher später den Namen Lippold von Hohenbüchen annimmt. Im Laufe der Grenzstreitigkeiten wird der Ritter zum Bösewicht und wandert als solcher in die Welt der Sagen ab.

Einige Quellen vermuten ein wesentlich höheres Alter der Anlage mit Funktion einer vorchristlichen Fluchtburg aus der Karolingerzeit oder sogar eine Schutzanlage für ein heidnisches Heiligtum. (4)

In einer Beschreibung der Höhle aus dem Jahre 1653 wird ein ausgemauerter, gewölbter Keller erwähnt. Von einem Haus an der Lippoldshöhle ist im Schrifttum noch bis in die Zeit nach dem 30-jährigen Krieg die Rede.

Am Ende der besagten Grenzstreitigkeiten wird die Höhlenanlage im Auftrag des Bischofs von Hildesheim ein erstes Mal zerstört. Neben den älteren Zerstörungen hat besonders eine Sprengung am Ende der 1950er Jahre zu einer deutlichen Veränderung beigetragen. Wegen Absturzgefahr des verwitterten Gesteins wurde ein großer Teil aus der oberen Höhle herausgesprengt. So sind die Kammern der Lippoldshöhle heute nach Außen hin geöffnet und das Innere der Höhle ist von starken Abnutzungs- und Verwitterungsspuren geprägt. AuchSpuren von Vandalismus sind zu sehen.


Das Innere der Höhle

In der Lippoldshöhle sind, wie in den Erdställen, Kammern über enge Gänge miteinander verbunden, die nur gebückt oder kriechend begangen werden können. Neben einem Horizontalschlupf befinden sich an mindestens zwei weiteren Stellen möglicherweise erst später erweiterte, an Schlupfe erinnernde Durchgänge. Sämtliche Kammern sind in  teilweise geringem Abstand zur äußeren Felswand in den Stein gehauen. Abzweigende Seitengänge sind nicht vorhanden und es gibt auch nur eine oder zwei mögliche Lichtnischen. Da die heute zur Felswand liegenden, offenen Höhlenwände auf den alten Plänen noch verschlossen waren, ging der frühere Einstieg in die Höhle sicherlich einmal von oben über eine natürliche, kleine Schachthöhle oder Felsspalte, den sogenannten „Schornstein“. Etwa in mittlerer Tiefe führt in der Wand dieses natürlichen Schachtes ein Kriechgang in nordöstlicher Richtung zur oberen Höhle. Der Eingang kann vom Schacht aus nur schlecht eingesehen werden, er liegt hinter einem kleinen Absatz und führt über eine ca. 1 m hohe Stufe in einen Horizontalschlupf mit einem Durchmesser von ca. 60 cm. Der Kriechgang zu den oberen Kammern hatte vermutlich einmal kleine Stufen, welche durch Versinterung und Abnutzung kaum mehr zu erkennen sind. Er hat eine Länge von fast 15 m. Die Ganghöhe liegt, abgesehen von zwei Verengungen, bei höchstens 110 cm. An verschiedenen Stellen sind trotz der starken Verwitterung und Zerstörungen noch Hauspuren zu erkennen. Der Gang scheint von oben nach unten nachgearbeitet worden zu sein, was an einer abschnittsartigen Abstufung der Gangdecke erkennbar ist. Im oberen Bereich der Höhle befinden sich zwei Kammern, die als „Gefängnis“ und „Stube“ bezeichnet werden und durch einen 300 cm langen und 110 cm hohen Gang miteinander verbunden sind. Die „Stube“, eine rundliche Kammer, hat in der obersten Deckenwölbung eine Höhe von 200 cm und einen Bodendurchmesser von etwa 170 cm.

Neben einem Loch in der äußeren Höhlenwand befinden sich Schriftzeichen, welche zum Teil als germanische Runen gedeutet werden. Das „Gefängnis“ ist etwas größer als die „Stube“ wobei genaue Maße wegen der Zerstörungen nicht wiedergegeben werden können.

An der Sohle des natürlichen Schachtes („Schornstein“) führt in entgegengesetzter Richtung ein zweiter Gang, hier mit noch deutlicher sichtbaren Stufen, in südwestliche Richtung und endet in einer tiefer gelegenen Kammer. Diese  Kammer ist mit einem Brunnen ausgestattet und wird als „Küche“ oder verschiedentlich auch als „Pferdestall“  bezeichnet. Die Kammer war in früherer Zeit nach außen hin durch gewachsenen Fels verschlossen, ebenso wie eine etwas kleinere Öffnung auf Höhe der Schachtsohle. Für einen Pferdestall ist die untere Kammer viel zu klein.


Die Lippoldshöhle im Vergleich

Der Einstieg in den künstlich geschaffenen Teil der Höhle ging mit Sicherheit einmal über den „Schornstein“, eine natürliche Schacht- oder Klufthöhle. In der Bronzezeit wurden im Harz und anderen Mittelgebirgen Deutschlands,  natürliche Schachthöhlen für kultische Zwecke genutzt. (5)

Es wurden Opfer dargebracht und in Höhlennischen sogar Bestattungen  niedergelegt. Nicht weit von der Lippoldshöhle entfernt liegt eine dieser Kulthöhlen, die Rothesteinhöhle am Ith. Künstliche Erweiterungen sind aus den bronzezeitlichen Kulthöhlen nicht bekannt.

Eine vergleichbare Höhle in ähnlicher Lage wie die Lippoldshöhle befindet sich in den Fränkischen Haßbergen. Es ist die Höhle im Veitenstein, einer Felswand am äußersten Ende des Lußberges. Die Höhle ist zunächst ebenfalls eine natürliche Kluft- oder Schachthöhle, zeigt aber in etwa 20 m Tiefe im Schacht und im Bereich der Sohle künstliche Erweiterungen, teils sogar mit erdstallähnlichem Charakter. Neben diesen künstlichen Erweiterungen weist der Veitenstein eine weitere Besonderheit auf, das so genannte Querkelesloch (Zwergleinsloch), eine ca. 8 m lange Schlupfröhre. Die Entstehung der Röhre ist umstritten.

Die aktuelle Forschung vermutet einen künstlich geschaffenen oder zumindest künstlich erweiterten Zugang zum Höhlenschacht.

Der Veitenstein ist übersät mit Felsritzungen meist aus jüngerer Zeit. Auffällig sind die als Hufeisen gedeuteten, bogenförmigen Ritzungen auf dem Felsplateau sowie die sogenannte Bocksfährte. Beide weisen dieselbe astronomische Ausrichtung nach Westen auf. Eine genaue Datierung der Ritzungen ist nicht möglich, genauso ist die Bauzeit der künstlichen Erweiterungen ungewiss. Außer einigen erhaltenen Sagen gibt es kein überliefertes Schrifttum über Zweck und Ursprung der künstlichen Teile in der Höhle des Veitensteins. Zeugnisse einer frühen Besiedlung der Fluren um den Lußberg belegen als Funde unter anderem jungsteinzeitliche Steinäxte. Bedeutende Funde einer mittelalterlichen Waldtöpferei befanden sich in unmittelbarer Nähe.

Eine zum Großteil künstliche Höhle mit natürlichem Schacht, welcher Spuren einer Erweiterung zeigt, ist die „Steinkirche“ bei Scharzfeld im Harz. Durch umfangreiche Abtragungen eines massiven Dolomitfelsens wurde hier vor  ca. 1000 Jahren eine natürliche Klufthöhle zu einer frühchristlichen Kirche umgestaltet. Im Inneren der Höhle, hinter  einem in den Stein gehauenen Altar, führt ein natürlicher Schacht mehr als 20 m in die Tiefe. Im unteren Teil zeigen Begradigungen der Wände und mehrere Stufen künstliche Erweiterungen, die in die Zeit des Mittelalters gedeutet  werden. Teile des Schachtes sind bis heute trotz mehrfacher Grabungen noch immer zugeschwemmt und es wird ein Zugang zu einem weiteren Höhlensystem vermutet. Zu welchem Zweck die Anlage unter denkbar schwierigem Einsatz erweitert wurde bleibt bis heute fraglich. Trotz der einzigartigen Bauart und des enormen Arbeitsaufwandes für die Umgestaltung liegen über die Anfänge der „Steinkirche“ weder aus dem frühen noch aus dem hohen Mittelalter schriftliche Informationen vor. Der Höhlenvorplatz selbst weist dagegen Funde aus sämtlichen Epochen auf und belegt eine Nutzungskontinuität dieses Ortes seit der Steinzeit.

Die genannten Anlagen haben besonders eines gemeinsam: Sie liegen alle in einer spektakulären Aussichtslage und aus der unmittelbaren Umgebung sind Funde aus beinahe sämtlichen Siedlungsepochen bekannt. Ob die Anlagen in der Zeit des Mittelalters erweitert wurden, kann nicht belegt werden. Immerhin wird bei der Steinkirche eine Bauzeit um das Jahr 1000 n. Chr. vermutet. Die Lippoldshöhle mit ihren erdstallähnlichen Gängen und Kammern ist in jedem Fall vor dem Jahre 1466 entstanden. Zu den Erweiterungen im Veitenstein finden sich keine Hinweise, die Bauart lässt aber einen Vergleich mit Erdställen zu, wobei die 8 m lange Schlupfröhre eine Besonderheit darstellt. Schrifttum über  die Zeit des Ausbaus gibt es zu keiner der Anlagen.

Immaterielle Funde aus den Sagen oder auch Flurnamen gelten als immaterielle Funde und bieten hilfswissenschaftliche Informationsquellen, gerade wenn Anhaltspunkte im Schrifttum fehlen und archäologische Untersuchungen keine befriedigenden Ergebnisse liefern. Die meisten Sagen sind heute zum Teil stark verzerrt und damit oft unverständlich geworden. Im Laufe vieler Generationen wurden sie immer wieder neu erzählt und oft aus politischen, religiösen oder auch ganz profanen Gründen umgedichtet.

Die lokale Heimatforschung sieht hinter den vielen Variationen der Sage zum Räuber Lippold eine Mischung aus historischen Geschehnissen und germanischer Kultüberlieferung. (6)

In einer Sagensammlung von Gerhard Kraus, der sich mehrfach mit dem Phänomen „Lippoldshöhle“ beschäftigt hat, findet sich eine der eindrucksvollsten Ausführungen der Sage:

„Vor etwa 500 Jahren, zu der Zeit wo sich die Leute ihr Recht mit der Faust verschaffen mussten, war der Ritter Lippold durch seinen älteren Bruder von Haus und Hof vertrieben worden. Da zog er sich in diese Schlucht zurück und ließ durch Steinmetzen die Höhle in der Felswand aushauen, leitete den Bach in den Brunnen hinein und verwehrte den hochgelegenen Eingang durch eine eiserne Tür.

Als alles vollendet war, forderte er die Steinmetzen auf, einzeln zu ihm heraufzukommen, um sich ihren Lohn zu holen. Er stieß aber jeden nieder, damit niemand seinen Unterschlupf verrate. Von dieser Höhle aus ritt er nun weit ins Land hinein, raubte und plünderte, wo er konnte. Um Kaufleute zu fangen, spannte er Drähte über den Weg, der durch die Schlucht führt. Sie waren mit Glöckchen verbunden, und diese gaben das Zeichen, wenn jemand vorbeizog.

Nach dieser Höhle schleppte er auch ein Mädchen hin, das er geraubt oder durch Versprechungen an sich gelockt hatte. Es war eine Schmiedetochter aus Alfeld. Ihres Vaters Haus stand dort, wo noch jetzt beim Krug eine Schmiede ist. Einmal in seiner Höhle, ließ der Raubritter sie nicht wieder los. Sie musste für ihn kochen und waschen und alle Hausarbeit verrichten. Mittags aber legte er seinen Kopf in ihren Schoß und ließ sich von ihr kraulen, bis er eingeschlafen war. Weil er aber ein wilder und grausamer Mann war, hatte sie bei ihm viel zu leiden. Seine neugeborenen Kinder hing er vor der Höhle im Walde auf, den Raubvögeln zum Fraß. Wenn dann die abgenagten Knochen im Winde klapperten, rief er hohnlachen seiner Gefährtin zu: „Höre, wie sich unsere Kinder freuen“.

Nun hatte die arme Gefangene einmal große Sehnsucht nach Hause und flehte den Räuber an, er möge ihr doch erlauben, auf einen Tag nach Alfeld zu ihren Eltern zu gehen. Lippold wollte anfangs nicht, gab aber endlich mit Widerstreben nach. Doch musste sie ihm schwören, zu keinem Menschen ein Wort zu sagen, damit niemand seine Höhle finden könne.

Das tat sie auch und zog dann fröhlich davon, der Heimat zu. Nun liegt da auf dem Markte von Alfeld ein Stein vor dem Rathaus. Weil es ihr verboten war, einem Menschen ihr Herzeleid zu klagen, so stellte sie sich vor diesen Stein und fing mit lauter Stimme an, von ihrer Gefangenschaft in der Höhle zu erzählen und von der Grausamkeit ihres Herrn. Sie berichtete auch, wie er zur Mittagszeit in ihrem Schoß schlafe, gerade unter dem Spalt, der senkrecht zur mittleren Höhle hinabführt. Nun war an dem Tag aber gerade Markt in Alfeld, und darum blieben auch viele Leute neugierig stehen und hörten verwundert das fremde Mädchen an, in dem sie bald die geraubte Tochter des Schmieds erkannten.

Alle bedauerten sie, selbst der Stein fühlte ein Rühren und drehte sich um, so dass seine blaue Unterseite oben hinkam. Auch der frühere Bräutigam kam gelaufen und vernahm die Geschichte. Als das arme Weib nun die Gelegenheit der Höhle beschrieb und gar von der Spalte erzählte, da riefen die Männer, nun wollten sie den Kerl bald kriegen. Morgen in der Mittagsstunde wollten sie kommen und den Räuber fangen. Des anderen Tages zogen die Alfelder unter Führung des Bräutigams hinaus, um endlich an Lippold für so manche Bosheit Rache zu nehmen und das Mädchen zu befreien. Heimlich schlichen sie durch den Wald bis dahin, wo die Felsen steil zur Glene abfallen.

Leise ließen sie in den Schornstein ein Seil mit einer Schlinge hinunter. Die Schmiedetochter, welche schon darauf gewartet hatte, fasste den Strick und legte ihn um den Hals des Räubers. Jetzt zogen die Alfelder an, Lippold erwachte, und in maßloser Wut griff er nach der Verräterin und riss ihr noch eine Brust ab. Das war sein Letztes. Wenige Minuten später hing er am Ast einer Buche über seiner Höhle. Im Triumphe führten die Alfelder das kluge Mädchen in die Heimat zurück.“ (7)

Einen Räuber Lippold hat es vermutlich nie gegeben, zumindest nicht im Zusammenhang mit der Höhle. Die Tötung der Steinmetze wird als Hinweis gesehen, dass die Bauzeit der Höhle schon vor der Entstehung der heute überlieferten Sage mit dem Räuber Lippold als Hauptperson, unklar war. (8)

Dies würde sich mit den historischen Tatsachen zur Person des Lippold von Rössing bzw. von Hohenbüchen decken. Die Sage gibt es nicht nur zur Lippoldshöhle. Mit nur geringen Abweichungen berichtet sie bei Halberstadt im Harz  über den Räuber „Daneil“ und seine Höhle oder bei Elbersberg in Franken über den Räuber „Guppertinga“ und das Windloch, in letztem Fall eine natürliche Schachthöhle. Aufgeschält finden sich im Kern der Sage Spuren eines verloren gegangenen Mythenschemas. Der Räuber stellt die Macht des Dunklen dar, den Tod und das Absterben in der Natur. Das Mädchen ist die personifizierte Fruchtbarkeit und symbolisiert das Leben. Der Vater steht für die Schöpferkraft, die Sonne und das Licht. Die Ursprünge der Sage stehen deutlich im Zusammenhang mit naturreligiösen Vorstellungen vergangener Völker und erzählen von einem Brauchtum, welches sich in Form eines Mythenspiels jährlich an den Höhlen wiederholt haben könnte. Der in der Gegend um die Lippoldshöhle erhaltene Brauch, im Frühjahr den personifizierten Winter in Form einer Strohpuppe zu verbrennen, steht vermutlich in diesem Zusammenhang. (9)

Viele der heute überlieferten Sagen mit Bezug auf naturreligiöse Vorstellungen haben ihre Wurzeln in der ausgehenden Bronze- und in der Urnenfelderzeit, eine Zeit welche sich durch vielfältiges religiöses Brauchtum auszeichnete. Die  großen Gestirne wie Sonne, Mond und andere Naturkräfte als höhere Mächte, bestimmten das religiöse Leben der  Menschen. Diese höheren Mächte wurden von größeren oder kleineren Gemeinschaften an vielen regionalen Kultplätzen und heiligen Orten verehrt. Es waren immer Orte, die eine besondere Verbindung zur Natur aufweisen. (10)

Im genannten Sagentyp spielt auch ein Stein eine bestimmte Rolle, er steht ganz im Gegensatz zur Höhle. Wird die Höhle als Jenseitsort oder Aufenthaltsort der Fruchtbarkeit im Winter gesehen, deutet der Stein als „Omphalus“, als Nabel der Mutter Erde, auf das zyklische Aufblühen in der Natur. Der Stein vor dem Rathaus in Alfeld ist vergleichbar mit den Kegelsteinen des alten Griechenlands oder des alten Orients. Sie wurden als Betylen oder Bethelsteine bezeichnet, was in der Übersetzung soviel bedeutet wie „göttlicher Stein“. (11)

Verehrt wurde in diesen Steinen unter anderem die göttliche Macht, Leben zu spenden. In der Jungsteinzeit war der Stein als absolut tote Materie der größte Gegensatz zum Leben. Gleichzeitig enthielt er die allerhöchste Schöpferkraft, welche aber einen Raum für Ihre optimale Entfaltung brauchte. Dieser Raum war schon in der Jungsteinzeit die Höhle. (12)

Stein und Höhle stehen in vielen Fällen im Zusammenhang, so wurde beispielsweise vor dem erdstallähnlichen „Bruderloch“ bei Schönholzerswilen (Schweiz) ein kegelförmiger Stein vor der Höhle gefunden. In den vom Volkskundler Georg Schambach (1811-1897) recherchierten Sagen zur Lippoldshöhle ist einmal die Rede von einem Stein, der als „Denkmal der That“ vor die Höhle gesetzt wurde. Es ist also gut möglich, dass der Stein von Alfeld einmal an oder sogar in der Lippoldshöhle aufgestellt war. Vergleichsweise ist aus Höhlen der baskischen Pyrenäen bekannt, dass dort einmal Kegelsteine aufgestellt waren, in welchen die Menschen ihre Göttin Mari verehrten.

Im Stein wurde auch der Ahnenseelen gedacht, welche zu verschiedenen Anlässen in Ritualen um Rat gefragt wurden.  Somit erklären sich auch die Hinweise auf einen möglichen Richtstein oder Richtplatz in Alfeld. Der „Lügenstein“ am Höhlenvorplatz hat genauso wenig damit zu tun wie der „steinerne Roland“, welcher vom Mädchen aus der Daneilssage in Halberstadt angesprochen wird. Lediglich der Name trägt noch den Hinweis auf die alte Bedeutung des Höhlenvorplatzes. In Halberstadt ist es ein liegender Findling nicht weit vom Rathausplatz entfernt, welcher heute interessanterweise noch immer als „Lügenstein“ bezeichnet wird.

In den süddeutschen Erdställen finden sich immer wieder alte Mühlsteine. Sie können im selben Zusammenhang gesehen werden, denn sie stehen symbolisch für die Wandlung vom Tod zum Leben und vom Leben zum Tod und liegen sogar noch im Christentum symbolisch in der Seelenwaage des großen Richters am jüngsten Tag, dem hl. Michael.

Auch das Leuten der Glöckchen hat symbolischen Charakter. In anderen Versionen der Sage sind sie direkt in der Höhle angebracht und überall in den Gängen Fäden gespannt. Im Alpenraum gibt es beispielsweise die „bezaubernden Gesänge“ dreier Jungfrauen, welche sich laut Sage aus vielen Höhlen unter anderem auch aus Erdställen oder aus den Felswänden vernehmen lassen. Die drei Jungfrauen stehen ebenso im Zusammenhang mit naturreligiösen Vorstellungen und es wird ihnen nachgesagt, dass sie in ihren Höhlen den Lebensfaden spinnen.

Die verkehrt herum aufgeschlagenen Hufeisen und das sich dadurch ergänzende Halbrund werden von den Alfelder Heimatforschern als Sichel- und Vollmond gedeutet. (13)

Auf dem Plateau des fränkischen Veitensteins sind hufeisenförmige Bögen als Felsritzungen angebracht. Eine Sage berichtet dort, dass der hl. Georg auf der Flucht vor dem Teufel mit seinem Pferd über den Veitenstein springt und die Abdrücke der Hufe dort hinterlässt. Unten im Tal reißt er die Hufeisen herunter und setzt sie verkehrt herum wieder auf.

Der Baum in welchen der Räuber die Kinder hängt ist auch ein Lebensbaum. (14)

In den naturreligiösen Vorstellungen lebten die Seelen der Ahnen in Bäumen, Seen, Steinen oder Höhlen. Sie waren in der Natur allgegenwärtig. Der Mensch war stets mit eingebunden in diese naturreligiöse Vorstellungswelt. In  vorchristlichen Mythologien wurde die Welt in einem Stockwerkbild gedacht, in Ober-, Mittel- und Unterwelt. Diese Welten wurden meist als Weltenbaum dargestellt, der Stamm stand symbolisch für die Weltenachse. In diesem Zusammenhang steht auch der Lebensbaum, er ist aber zugleich auch Todesbaum. So wird der Räuber Lippold an einem Baum über der Höhle gehenkt, in einigen Sagen aber auch in der Höhle selbst getötet. Mit dem Tod des Räubers im Jenseits wird das Ende der dunklen Mächte symbolisiert, wobei der Schornstein der Lippoldshöhle die Weltenachse andeutet, an ihm fahren die Seelen in die Unterwelt. In der germanischen Mythologie wird der Weltenbaum als Odins Galgenbaum beschrieben. Im englischen wird er mit „terrible horse“ übersetzt. Die Gehenkten reiten auf ihm in die Unterwelt. Es ist derselbe Weg, auf dem die Seelen aus dem Jenseits ihren Weg zurück in die Welt des Lebens finden.

Im Kinderbaum hängen sie in der Oberwelt, als Zeichen der göttliche Mächte, wo sie von Helfern in die Mittelwelt abgeholt werden Interessanterweise wird in der Daneilssage der Räuber von riesigen Mengen Mehlbrei erstickt, welcher von oben in die Höhle eingebracht wird. Ein symbolischer Sieg der Fruchtbarkeit über die Mächte der Dunkelheit.

Die Hinweise aus den Sagen deuten auf eine vergleichbare Zweckbestimmung der genannten Höhlen. Wie diese Zweckbestimmung im einzelnen aussah bleibt fraglich. Die Informationen zum Mythenschema aus dem Sagentyp der Lippoldshöhle sind vermutlich älter als die künstlichen Erweiterungen. Möglicherweise haben sie ihren Ursprung sogar in der Zeit der bronzezeitlichen Kulthöhlen. Sicher ist, dass in den Sagen zu vielen natürlichen und künstlich geschaffenen Höhlen, auch zu den Erdställen, immer wieder Hinweise auf verloren gegangene, naturreligiöse Vorstellungen im Zusammenhang mit Leben, Tod und Wiedergeburt im Jahreskreislauf sichtbar werden. Diese Vorstellungen fanden noch über längere Zeit in einem religiösen Brauchtum ihren Ausdruck, um sich dann in den Sagen niederzulegen.


Ist die Lippoldshöhle ein Erdstall ?

Im Laufe der Erdstallforschung wurde auf Grund der Untersuchung von Werkzeugspuren festgestellt, dass Erdstallanlagen mit einer Spitzhaue in den Untergrund oder Fels getrieben wurden, und daher eine Datierung der Bauzeiten nicht früher als nachrömerzeitlich sein kann. (15)

Die teilweise nur schlecht erhaltenen Hauspuren in der Lippoldshöhle können nicht mit Bestimmtheit auf die Verwendung einer Spitzhaue bezogen werden. Dennoch erinnert die Architektur der Anlage stark an die unter anderem in Süddeutschland verbreiteten Erdställe.


      

Grafik: Dieter Ahlborn

Aus dem natürlichen Schacht der Lippoldshöhle und aus den künstlich geschaffenen Gängen und Kammern gibt es keine archäologischen Funde. Die als germanische Runen gedeuteten Felsritzungen bieten keinen Anhaltspunkt für die Datierung einer Bauzeit. Auch aus den süddeutschen Erdställen sind keine nennenswerten archäologischen Funde bekannt. Auf Grund von Holzkohlespuren aus Verfüllmaterial werden die Bauzeiten jedoch mit immer größerer Wahrscheinlichkeit in die erste Hälfte des Mittelalters datiert. Eine Zeit, in welcher die Christianisierung der Landbevölkerung im Süden genauso wie im Norden des Landes nur lückenhaft abgeschlossen war. Einzelne Bevölkerungsgruppen waren in ihrem Glauben noch stark geprägt von heidnischen Vorstellungen bzw. praktizierten eine Mischung aus heidnischem und christlichem Glauben. (16)

Erst die Zeit nach dem Investiturstreit (17) brachte im 12. Jh. n. Chr. die großen Umbrüche und festigte mit dem Papsttum auch die vorgegebene Glaubensvorstellung. Es ist die Zeit, in welcher die Eingänge der Erdställe verschüttet werden. Wird eine Bauzeit der Lippoldshöhle in das Mittelalter gelegt, belegen die eisenzeitlichen Funde vom Höhlenvorplatz, dass der natürliche Schacht bereits lange vor dieser Zeit bekannt gewesen sein muss. Mit Sicherheit kann eine Nutzungskontinuität der Höhle oder zumindest des Höhlenvorplatzes seit frühgeschichtlicher Zeit angenommen werden.

Da eine Anlage mit vergleichbarer Bauart in der weiteren Umgebung nicht zu finden ist, bleibt die Lippoldshöhle nicht nur in ihrer Gegend ein einzigartiges Phänomen. Nach der derzeit gängigen Typisierung nach Herbert Wimmer (18) würde sich die Lippoldshöhle am ehesten als Erdstall Typ „D“ (Überwiegend horizontale Ausdehnung. Durchschlupfe horizontal-viereckig, kein Bauhilfsschacht) einordnen lassen. Eine Mischung aus natürlicher und künstlicher Höhle ist in der Typisierung bisher nicht vorgesehen. Auf der Suche nach Bauzeiten und Zweckbestimmungen sollten vergleichbare Anlagen auch außerhalb des Verbreitungsgebietes der Erdställe unbedingt mit einbezogen werden.

Aus dem Raum Hildesheim (nahe Alfeld) und auch aus dem Harz sind einige wenige „erstalltypische“ Sagen bekannt. Inwieweit sie Hinweise auf die Nutzung der Erdställe liefern oder zur Entdeckung weiterer Anlagen führen können, muss noch überprüft werden. Ob ein Zusammenhang zwischen Zweckbestimmung und Bauzeit der Lippoldshöhle und den süddeutschen Erdstallanlagen besteht, bleibt am Ende der Betrachtungen offen.

Dieter Ahlborn


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(1) Kraus Gerhard, Eine kleine Chronik von Brunkensen, ohne Jahresangabe.
(2) Zimmermann Margret, Kensche Hans, Burgen und Schlösser im Hildesheimer Land, Hrsg. Hildesheimer Volkshochschule e.V., 2. Auflage, Hildesheim 2001.
(3) Dürkop Walter, Die Lippoldshöhle – Teil eines mittelalterlichen Sperrsystems, Skript überreicht von Herrn Egbert Grave, Brunkensen.
(4) Zimmermann Margret, Kensche Hans, Burgen und Schlösser im Hildesheimer Land, Hrsg. Hildesheimer Volkshochschule e.V., 2. Auflage, Hildesheim 2001.
(5) Höhlen im Westharz und Kyffhäuser, Archäologische Schriften des Lkrs. Osterode am Harz 3, Holzminden 2001.
(6) Kraus Gerhard, Eine kleine Chronik von Brunkensen, ohne Jahresangabe.
(7) Kraus Gerhard, Sagen aus dem Hildesheimer Land, Husum 1996.
(8) Dürkop Walter, Die Lippoldshöhle – Teil eines mittelalterlichen Sperrsystems, Skript überreicht von Herrn Egbert Grave, Brunkensen.
(9) Kraus Gerhard, Eine kleine Chronik von Brunkensen, ohne Jahresangabe.
(10) Lang Amei, Religiöses Brauchtum, in: Archäologie in Bayern, Fenster zur Vergangenheit, Ges. f. Archäologie in Bayern (Hsg.), Regensburg 2006.
(11) Derungs Kurt, Schlatter Christine, Kulthöhle „Bruderloch“, in: Quellen Kulte Zauberberge, Grenchen 2005.
Vgl.: Meier John, Der Brautstein, Frauen, Steine und Hochzeitsbräuche, Bern 1996.
(12) Mahlstedt Ina, Die religiöse Welt der Jungsteinzeit, Darmstadt 2004.
(13) Kraus Gerhard, Eine kleine Chronik von Brunkensen, ohne Jahresangabe.
(14) Vgl.: Holmberg Uno, Der Baum des Lebens, Göttinnen und Baumkult, Bern 1996.
(15) Keller-Tarnuzzer Karl, Das Bruderloch bei Schönholzerswilen und die verwandten künstlichen Höhlen in Mitteleuropa, in:Thurgauische Beiträge zur vaterländischen Geschichte, Heft 61, Frauenfeld 1924.
(16) Vgl.: Kortüm Hans- Henning, Menschen und Mentalitäten, Einführung in Vorstellungswelten des Mittelalters, Berlin 1996.
(17) Der sog. Investiturstreit bezeichnet im mittelalterlichen Europa den Höhepunkte eines politischen Streits zwischen geistlicher und weltlicher Macht. Er begann im Jahre 1075 mit Papst Gregor VII. und endete im Jahr 1122 mit einer Festigung der kirchlichen Macht.
(18) Wimmer Herbert, Die Regional-Typisierung der Erdställe, in: Der Erdstall Heft Nr. 26, Roding 2000.

Literatur:

Archäologie in Bayern, Fenster zur Vergangenheit, Ges. f. Archäologie in Bayern (Hsg.), Regensburg 2006.
Derungs Kurt, Schlatter Christine, Quellen Kulte Zauberberge, Grenchen 2005.
Dürkop Walter, Die Lippoldshöhle bei Alfeld (Leine) – Ortsteil Brunkensen. In: Unser Hildesheimer Land. Hrsg. von Hans Meyer-Roscher, Bd. 3, Hildesheim 1979.
Dürkop Walter, Die Lippoldshöhle – Teil eines mittelalterlichen Sperrsystems, Skript überreicht von Herrn Egbert Grave, Brunkensen.
Göttner-Abendroth, Heide / Derungs Kurt (Hg.), Mythologische Landschaft Deutschland, Bern 1999. (Aufsätze Derungs, Ranke, Schell).
Höhlen im Westharz und Kyffhäuser, Archäologische Schriften des Landkreises Osterode am Harz, Holzminden 2001.
Holmberg Uno, Der Baum des Lebens, Göttinnen und Baumkult, Bern 1996.
Keller-Tarnuzzer Karl, Das Bruderloch bei Schönholzerswilen und die verwandten künstlichen Höhlen in Mitteleuropa, in: ThurgauischeBeiträge zur vaterländischen Geschichte, Heft 61, Frauenfeld 1924.
Köder Heinrich, Hofmann Leo, Köder Günter u. Herbert, Der Veitenstein bei Lusberg, in: Der Erdstall Heft Nr. 3, Roding 1977.
Kortüm Hans-Henning, Menschen und Mentalitäten, Einführung in Vorstellungswelten des Mittelalters, Berlin 1996.
Kraus Gerhard, Eine kleine Chronik von Brunkensen, ohne Jahresangabe.
Kraus Gerhard, Sagen aus dem Aringo. Von Freden über Alfeld bis Greden, Hrsg. Verein für Heimatkunde e.V., Alfeld 2000.
Kraus Gerhard, Sagen aus dem Hildesheimer Land, Husum 1996.
Mahlstedt Ina, Die religiöse Welt der Jungsteinzeit, Darmstadt 2004.
Meier John, Der Brautstein, Frauen, Steine und Hochzeitsbräuche, Bern 1996.
Moser Manfred, Opferhöhlen, in: Der Zwiebelturm, Monatsschrift für das bayerische Volk und seine Freunde, 1969.
Moser Manfred, Künstliche Opferschächte, Eine archäologisch – religionsgeschichtliche Bibliographie, in: Der Erdstall Heft Nr.4, Roding1978.
Rund um den Veitenstein, Hrsg. Hassbergverein Veitenstein Breitenbrunn und Brüder Köder, 3. überarbeitete Auflage, Breitbrunn1997.
Schwarzfischer Karl, Zur Bauweise der Erdställe, Zweckbauten oder Kultstätten, Sonderheft Nr. 16 aus der Reihe „Der Erdstall“.  Jahreshefte des Arbeitskreises für Erdstallforschung, Roding 1990.
Wimmer Herbert, Die Regional-Typisierung der Erdställe, in: Der Erdstall Heft Nr. 26, Roding 2000.
Zimmermann Margret, Kensche Hans, Burgen und Schlösser im Hildesheimer Land, Hrsg. Hildesheimer Volkshochschule e.V., 2. Auflage, Hildesheim 2001.
http://www.brunkensen.de (Lippoldshöhle)
http://www.karstwanderweg.de/publika/uns_harz/46/106-109/
(Knocke Horst, Der „Schacht“ in der Höhlenkirche (Steinkirche) bei Scharzfeld.)

Danksagung:

Für das freundliche Gespräch und die vielen Informationen zur Lippoldshöhle bedanke ich mich ganz herzlich
bei Herrn Egbert Grave aus Brunkensen. Ebenso bedanke ich mich bei Herrn Manfred Moser für die
Sagenhinweise.